Fürst Esterházy
Fürst Esterházy saß in einem Wiener Ringstraßencafé. Er trank einen doppelten Mocca und las die Börsennachrichten. Ein paar Tische weiter zerbrach ein Glas, er rieb sich das Knie. Anschließend
ergab sich die Möglichkeit, dass er seine Lieblingskellnerin im Kaffeelöffel gespiegelt betrachten konnte. Dann las er erneut die Börsennachrichten und diesmal auch im Kaffeelöffel – beidseitig –
löffelbauchinnen- und löffelbauchaußenseitig, wobei Esterházy parallel dazu seinen eigenen Bauch einzog oder vorwölbte, was ihm ermöglichte, den kommenden Regen zu riechen, der sowohl vom
windigen Hudson auf die Wall Street hustete, als auch die Ringstraße versinken ließ. In den wilden Schauern drückte sich ein Ziegelstein aus der Wand der Hofburg und fiel Esterházys Pförtner auf
den Kopf. Unter mitfühlenden Kopfschmerzen schrieb der Fürst, als er im Börsenticker vom Vorfall mit dem Pförtner erfuhr, sofort einen Liebesbrief an die habsburgische Kaiserin. Sie heiratete ihn
vier Monate später in Madrid, der Stephansplatz heißt dort Puerta del Sol und wurde vollständig mit Rosenblättern bestreut.
Das alles trug sich 2016 zu. 2050 brach Esterházy in einem Ringstraßencafé trotz des tadellos laufenden dritten Austauschherzens zusammen und starb noch in der Rettungsdrohne.
Fürst Esterházy, in: Jenny Literaturmagazin, Wien, Ausgabe 04/2016
Die Garnelen
Als ich vor dem Garnelenregal stand und nach einem Glas griff und anfing, die Zeile unterhalb der Hauptbeschriftung zu lesen, da wurde mir plötzlich klar, dass ich lesen konnte. Dass ich schon
seit Jahrzehnten las, die Welt lesend erfasste. Denn auf dem Glas wurde mir erklärt, dass diese Garnelen keine Garnelen waren, sondern ein garnelenförmiges Imitat. So, so!
Neben mir griff nun ein Mann ins Regal, und zwar auch nach so einem Glas. Ich las ihm vor und er starrte mich mit Analphabetenaugen an. Ich las weiter, warf dem Kerl – dessen Gesichtszüge rasch
angespannter wurden – kurze Seitenblicke zu, drehte das Glas auf die Rückseite und berichtete von den kleingedruckten Details des Imitats. Seltsames Zeug, natürlich. Der Mann wurde zusehends
unruhiger, schließlich schlug er seinen Mantel zurück, zog eine Waffe und schoss mir eine Garnele in den Kopf. Sie begann augenblicklich zu schwimmen, denn das Hirn ist ja eine Art Korallenriff
in einem Bassin aus salzhaltigem Nährwasser. Die Garnele knabberte ein wenig an meinem Kleinhirn, es kitzelte. Dann wandte sie sich ganz nach alter Fressgewohnheit den Ozeansmarties zu, die
zwischen den Korallenklüften schwebten.
Die Garnelen, in: Jenny Literaturmagazin, Wien, Ausgabe 03/2015