Verunsichert und verbittert

Die russische Seele, in ihrer imperialen Spielart, ist zutiefst verunsichert und verbittert zugleich. Verunsichert, weil eine Unfähigkeit besteht, den Weg der Ukraine nach Westen als Vorbild für die eigene Entwicklung zu sehen, zu begreifen, dass Rechtsstaat und freie Presse Werte sind, die die Leute schätzen. Verbittert, weil ein falsches Bild vom Zweiten Weltkrieg gepflegt wird, ein Bild, in dem (unter anderem) Stalins blutiger Griff nach Finnland, den baltischen Staaten oder Ostpolen (teilweise durch den Hitler-Stalin-Pakt) schlicht verschwiegen wird. Der Zweite Weltkrieg wird im offiziellen Russland mit nur fünf von insgesamt zwanzig nötigen Puzzlestücken erzählt, und die fehlenden 15 Stücke führen dazu, dass nun - in einem Akt fast surrealer Brutalität - in besetzten ukrainischen Städten wieder Lenins aufgestellt werden.

 

Russland scheint im Vergleich zu sowjetischen Zeiten hysterischer. Der Kreml spricht leichtfertig und oft von Atomkrieg, man zweifelt die Grenzen (Existenz) der Ukraine und der baltischen Staaten an, und das ganze Konstrukt des Kriegsgrunds, das Putin als Kampf gegen einen vermeintlichen ukrainischen Faschismus vorgebracht hat, ist nicht nur unfassbar niederträchtig, sondern auch seltsam hysterisch, das schrille Kreischen eines eingebildeten Kranken.

 

Russland will ein Akteur sein auf europäischem und internationalem Parkett, ein Zentrum. Zumindest was das europäische Parkett angeht (in anderen Teilen der Welt, wie sich in diesen Monaten zeigt, wird der russische Überfall ja oft weniger scharf wahrgenommen) ist es aber absolut dringend notwendig, dass der imperiale Geist der Vergangenheit abgeschüttelt wird. Gelingt dies, kann Russland tatsächlich (wieder) ein Zentrum Europas (Eurasiens) werden, ein Zentrum für Kultur, Fortschritt, Klimawandel. Der riesige Naturraum eröffnet auch große Chancen hinsichtlich Energiewende oder Aufforstung großer Wälder. Russland könnte viel bieten, wenn es den Aufbruch wagt.